Was ist Visuelle Soziologie?

Die Visuelle Soziologie ist ein neues Forschungsfeld, das sich mit der Bedeutung von bewegten wie unbewegten Bildern in gesellschaftlichen Prozessen beschäftigt. Fragen wie die folgenden haben empirische wie auch theoretische Forschungen angeregt, die sich in den letzten zehn Jahren im deutsch- wie englischsprachigen Raum zunehmend dynamisch entwickelt haben.

  • Welche sozialen und gesellschaftlichen Gestaltungsprozesse sind mit Film, Video, Fotografie, Zeichnung, Malerei, Diagramm, Schaubild, Plakat, Graffiti, und anderem mehr in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen verbunden?

  • Welche Rolle spielen Filme, Videos, Einzelbilder und Bildsammlungen in öffentlichen, privaten und halböffentlichen sozialen Welten; im Internet, in der Werbung, Popularkultur, in Wissenschaft, Politik u.v.a. mehr?

  • In welcher Weise hängen historische Entwicklungen von Gesellschaften mit Bildern und ihren (technischen) Medien zusammen?

  • Welche sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen gehen mit der zunehmenden Verlagerung der Wissens- und Symbolproduktion in die visuelle Dimension einher?

  • Wie zirkulieren Bilder in Globalisierungsprozessen und welche kulturellen, ökonomischen und politischen Prozesse sind damit verbunden?

  • Inwiefern sind Bilder ähnlich grundlegend wie etwa die Sprache an der Herstellung von Sozialität beteiligt? In welchen visuellen Dimensionen konstituieren sich gesellschaftliche Ordnungen?

  • Wie lassen sich Erhebung und Auswertung visueller Materialien in bestehende soziologische Forschungsmethoden integrieren? Wie kann das methodologische und methodische Instrumentarium der Soziologie weiterentwickelt werden um bildliche Aspekte gesellschaftlichen und sozialen Lebens besser zu erfassen?

Mit der Visuellen Soziologie verbinden wir vorwiegend wissenssoziologische Ansätze in ihrer theoretischen und methodologisch-methodischen Breite (Interpretative Soziologie, Hermeneutik, Ethnomethodologie, Diskursanalyse, Grounded Theory) mit der Erforschung aller gesellschaftlich relevanten Bildmedien. Es werden theoretische Konzepte aus dem inzwischen weit ausdifferenzierten Feld der Bildwissenschaften, basierend auf Symboltheorien (Cassirer/Langer, Barthes, Baudrillard), phänomenologischen Wahrnehmungs- und Bildkonzepten (Merleau-Ponty, Boehm, Wiesing), den Kulturwissenschaften bzw. der Visual Culture (Mitchell, Mirzoeff, Schade, Wenk) sowie Film- und Medientheorien (Bohnsack, Faulstich, Hickethier, Winter) vermittelt. Dabei werden Verbindungen zu klassischen soziologischen Theorien hergestellt, soweit sich diese mit Bildern beschäftigt haben (Goffman, Simmel, Schütz, Foucault, Bourdieu). 

Einen weiteren Fokus bildet die Entwicklung methodologischer und methodischer Zugänge zur Film- und Bildinterpretation. Ein Schwerpunkt liegt auch in der Erzeugung visueller Daten in der Soziologie und ihren Nachbardisziplinen. Visuelles, d.h. Bild- und Videomaterial werden auch selbst erhoben, etwa in ethnographisch angeleiteten fotografischen Dokumentationen, in Fotobefragungen oder als ethnografische oder dokumentarische Filme. 

Viele Themen und Problemstellungen sind im Bearbeitungsfeld der Visuellen Soziologie denkbar, insbesondere auch an den Schnittstellen zu den anderen soziologischen Forschungsspezialisierungen: Kultursoziologie, Wissenschaftsforschung, Sozialstrukturanalyse, Gesundheit und Organisation, Arbeit, Familie, Lebenslauf, Migration, Exil, Erinnerungskultur.

Kontext Quellen

Innerhalb unserer Arbeit im Rahmen von «NUXN – Plattform für Fotografie und visuelle Soziologie», der Ausarbeitung der Bände «Zeugnisse, Teil 1: Fotografie» und «Zeugnisse, Teil 2: Film», beziehen wir uns in unseren Quellen auf die Forschung zur visuellen Soziologie und visuellen Kultur von Sigrid Schade und Silke Wenk, auf die Forschung zur visuellen Zeugenschaft von Pierre Bourdieu, auf die Forschung zur dokumentarischen Methode in der Bild- und Fotointerpretation von Ralf Bohnsack, auf die Forschung von Yana Milev zu Designanthropologie und Designsoziologie sowie auf die Forschung von Roswita Breckner und Eva Flicker.

Barthes, Roland (1990): Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt am Main. (Original: 1982). 

Baudrillard, Jean (2011): Der symbolische Tausch und der Tod, Matthes&Seitz, Berlin. 

Belting, Hans (2006): Bild-Anthropologie, Wilhelm Fink, München, 2006 

Beckert, Philipp; Milev, Yana; Noack, Marcel (2021): Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90, Band 5: Zeugnisse, Teil 1: Fotografie, Peter Lang, Berlin. 

Beckert, Philipp; Milev, Yana; Noack, Marcel (2022): Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90, Band 5: Zeugnisse, Teil 2: Film, Peter Lang, Berlin, i.E. 

Birkhan, Barabara (2012): Foucaults ethnologischer Blick. Kulturwissenschaft als Kritik der Moderne, Transcript, Bielefeld. 

Bohnsack, Ralf (2007): Dokumentarische Bildinterpretation. Am exemplarischen Fall eines Werbefotos, in: Buber R., Holzmüller H.H. (eds) Qualitative Marktforschung. Gabler, Springer, Wiesbaden. 

Bohnsack, Ralf (2001a): Die dokumentarische Methode in der Bild-und Fotointerpretation. In: Bohnsack, Ralf/ Nentwig-Gesemann, Iris/ Nohl, Arnd-Michael (2001, Hrsg.): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Opladen, 67–89. Wieder abgedruckt in: Ehrenspeck, Yvonne/Schäffer, Burkhard (Jahr, Hrsg.): Film-und Fotoanalyse in der Erziehungswissenschaft. Ein Handbuch. Opladen, 87–107. 

Bohnsack, Ralf (2001b): „Heidi“: Eine exemplarische Bildinterpretation auf der Basis der dokumentarischen Methode. In: Bohnsack, Ralf/ Nentwig-Gesemann, Iris/ Nohl, Arnd-Michael (2001, Hrsg.): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Opladen, 323–337. Wieder abgedruckt in: Ehrenspeck, Y-vonne/Schäffer, Burkhard (2003, Hrsg.): Film-und Fotoanalyse in der Erziehungswissenschaft. Ein Handbuch. Opladen, 109–120. 

Bohnsack, Ralf (2003a): Qualitative Methoden der Bildinterpretation. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (ZfE), 6. Jg., Heft 2, 159–172. 

Bohnsack, Ralf (2003b): Exemplarische Bildinterpretationen. In: Bohnsack, Ralf (2003): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 5. Auflage. Opladen, 236–257. 

Bohnsack, Ralf/ Nohl, Arnd-Michael (2001): Ethnisierung und Differenzerfahrung. Fremdheit als alltägliches und als methodologisches Problem. In: ZBBS (Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs-und Sozialforschung). Heft 3, 15–36. 

Bourdieu, Pierre (1970): Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis. In: Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie symbolischer Formen. Frankfurt am Main, 125–158 

Bourdieu, Pierre (1976): Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt am Main. 

Breckner, Roswitha (2010): Sozialtheorie des Bildes: Zur interpretativen Analyse von Bildern und Fotografien, Transcript, Bielefeld. 

Eco, Umberto (1994): Einführung in die Semiotik. 8. Auflage. München. 

Edgerton, Samuel Y. (2002): Die Entdeckung der Perspektive. München. 

Foucault, Michel (1971): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main. (Original: 1966). 

Geertz, Clifford (1983): Dichte Beschreibungen. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1983 

Goffman, Erving (1979): Gender Advertisements. New York et al. (zuerst: 1976). 

Habermas, Jürgen (1973): Notizen zum Begriff der Rollenkompetenz. In: Habermas, Jürgen (Hrsg.): Kultur und Kritik. Frankfurt am Main, 195–231. 

Imdahl, Max (1979): Überlegungen zur Identität des Bildes. In: Marquard, Odo/ Stierle, Karlheinz (Hrsg.): Identität (Reihe: Poetik und Hermeneutik, Bd. VII). München, 187–211. 

Imdahl, Max (1994): Bilder und ihre Anschauung. In: Boehm, Gottfried (Hrsg.): Was ist ein Bild?. München, 300–324. 

Imdahl, Max (1995): Pose und Indoktrination. Zu Werken der Plastik und Malerei im Dritten Reich. In: Imdahl, Max (Hrsg.): Reflexion–Theorie–Methode. Gesammelte Schriften. Bd. 3. Frankfurt am Main, 575–590. 

Imdahl, Max (1996a): Giotto–Arenafresken. Ikonographie–Ikonologie–Ikonik. Müchen. 

Imdahl, Max (1996b): Wandel durch Nachahmung. Rembrandts Zeichnung nach Lastmanns „Susanna im Bade“. In: Imdahl, Max (Hrsg.): Zur Kunst der Tradition. Gesammelte Schriften. Bd. 2. Frankfurt am Main, 431–456. 

Imdahl, Max (1996c): Bildsyntax und Bildsemantik. Zum Centurioblatt im Codex Egberti. In: Imdahl, Max (Hrsg.): Zur Kunst der Tradition. Gesammelte Schriften. Band 2. Frankfurt am Main, 78–79. 

Klambeck, Amelie (2006): „Das hysterische Theater unter der Lupe“. Klinische Zeichen psychogener Gangstörungen. Wege der dokumentarischen Rekonstruktion von als theatral wahrgenommenen Körperbewegungen–Eine videoanalytische Untersuchung. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doctor medicinae (Dr. med.) an der Medizinischen Fakultät Charité der Humboldt-Universität zu Berlin. 

Lévi-Strauss, Claude (2021): Anthropologie in der modernen Welt, Suhrkamp, Berlin. 

Mannheim, Karl (1964): Beiträge zur Theorie der Weltanschauungsinterpretation. In: Mannheim, Karl: Wissenssoziologie. Neuwied, 91–154 (Original: 1921-1922. In: Jahrbuch für Kunstgeschichte XV, 4). 

Michel, Burkard (2006a): Das Gruppendiskussionsverfahren in der (Bild-) Rezeptionsforschung. In: Bohnsack, Ralf/ Przyborski, Aglaja/ Schäffer, Burkhard (Hrsg.): Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis. Opladen, 219–231. 

Michel, Burkard (2006b): Bild und Habitus. Sinnbildungsprozesse bei der Rezeption von Fotografien. Wiesbaden. 

Milev, Yana (2011): Emergency Design. Anthropotechniken des Über/Lebens, Merve, Berlin. 

Milev, Yana (2011): Emergency Design – New Semiotic Order of Urban Survival, in: Andrea Gleiniger, Angelika Hilbeck, Jill Scott (Ed.), Transdiscourse, Springer Wien New York. 

Milev, Yana (2012): Design Governance und Breaking News. Das Mediendesign der permanenten Katastrophe, in: Christiane Heibach (Ed.), Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens, Wilhelm Fink, München. 

Milev, Yana (2013):  D.A. – A Transdisciplinary Handbook of Design Anthropology, Peter Lang, International Publisher, Frankfurt/Main. 

Milev, Yana (2013): Design Kulturen. Der erweiterte Designbegriff im Entwurfsfeld der Kulturwissenschaft, Wilhelm Fink, München. 

Milev, Yana (2014): Designsoziologie. Der erweiterte Designbegriff im Entwurfsfeld der politischen Theorie und Soziologie, Peter Lang, Internatioanler Verlag der Wissenschaften, Frankfurt/Main. 

Milev, Yana (2016): The Transformation of Societies in the Mirroreof an Expanded Concept of ‘Design’, in: The Next Big Thing Is Not A Thing. Surveying the Design Discipline, Exhibition after the Design Anthropology Research by Yana Milev, Bureau Europa, Maastricht. 

Mitchell, William J.T. (1994): Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation. Chicago, London. 

Mitchell, William J.T. (1997): Der Pictorial Turn. In: Kravagna, Christian (Hrsg.): Privileg Bild. Kritik der visuellen Kultur. Berlin, 15–40. 

Nentwig-Gesemann, Iris (2006): Regelgeleitete, habituelle und interaktionistische Spielpraxis. Die Analyse von Kinderspielkultur mit Hilfe videogestützter Gruppendiskussionen. In: Bohnsack, Ralf/ Przyborski, Aglaja/ Schäffer, Burkhard (Hrsg.): Das Gruppendiskussionsverfahren in der Praxis. Opladen, 25–44. 

Nohl, Arnd-Michael (2002): Personale und soziotechnische Bildungsprozesse im Internet. In: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs-und Sozialforschung (ZBBS), Heft 2, 215–240. 

Panofsky, Erwin (1932): Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der Bildenden Kunst. In: Logos, XXI, 103–119 (Wieder abgedruckt in: Panofsky, Erwin (Hrsg.) (1964): Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Berlin, 85–97). 

Panofsky Erwin (1964): Die Perspektive als „symbolische Form“. In: Panofsky Erwin (Hrsg.): Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Berlin, 99–167. 

Panofsky, Erwin (1975): Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance. In: Panofsky, Erwin (Hrsg.): Sinn und Deutung in der bildenden Kunst. Köln, 36–67 (Original: 1955: Meaning in the Visual Arts. New York). 

Panofsky, Erwin (2001): Die altniederländische Malerei. Ihr Ursprung und Wesen. Köln (Ursprüngl: Early Netherlandish Painting. Harvard University Press. Cambridge (Mass.) 1953). 

Schade, Sigrid; Wenk, Silke (2014): Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Transcript, Bielefeld. 

Schierl, Thomas (2005): Werbungsforschung. In: Sachs-Hombach, Klaus (Hrsg.): Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden. Frankfurt am Main, 309–319. 

Wagner-Willi, Monika (2001): Videoanalysen des Schulalltags. Die dokumentarische Interpretation schulischer Übergangsrituale. In: Bohnsack, Ralf/ Nentwig-Gesemann, Iris/ Nohl, Arnd-Michael (Hrsg.): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Opladen, 121–140 

Wagner-Willi, Monika (2005): Zwischen Vorder-und Hinterbühne. Rituelle Übergangspraxen bei Kindern von der Hofpause zum Unterricht. Eine empirische Analyse in einer Berliner Grundschule. Wiesbaden. 

Wehner, Christa (1996): Überzeugungsstrategien in der Werbung. Eine Längsschnittanalyse von Zeitschriftenanzeigen des 20. Jahrhunderts (Studien zur Kommunikationswissenschaft. Band 14). Opladen. 

Der Text verwendet Auszüge aus: Roswita Breckner, Eva Flicker, Visuelle Soziologie, Studienprogramm Soziologie, Universität Wien, 2013