Kein weiterer, sondern ein vollkommen anderer Bildband zur DDR
Ringo Ehlert
Publiziert in: Unentdecktes Land e.V. https://www.unentdecktes-land.org
01.Juni 2022
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Band Fünf des Forschungsprogramms „Entkoppelte Gesellschaft“*, der ostdeutschen Wissenschaftlerin Yana Milev liegt auf dem Tisch. Unzählige Fotografien, endlos Text, knapp 700 Seiten münden in 1,5 Kilogramm. Gravitation trifft Literatur. Milevs Buch und das ihrer Mitstreiter Philipp Beckert und Marcel Noack ist Gepäck. Bevor es aufschlagen ist, schlägt man sich mit Fragen rum: Was soll wissenschaftliche Betrachtung in einer Galerie von Fotos, jedes nur des Fotografen (Augen)blick jenseits des Ganzen? Und wer braucht nach „Die DDR in Farbe“ und „Die DDR Schwarz-Weiß“ und all den anderen tendenziösen Fotoalben der hiesigen Buchproduktion noch einen weiteren Bildband zur verschwundenen Republik? Genug der Rhetorik, natürlich geht der vorliegende Bildband einen anderen Weg. Jenen auf dem man sich unbeliebt und bei den richtigen Leuten beliebt macht, weil man sich mehr der Erkenntnis nähert als dem Zeitgeist.
Beginnend in „Aufbruch & Aufbau“, geht es weiter in ein „Über/Leben im Umbruch“ und endet unvermeidlich im „Neuland & Exil“. Auch wenn man in der Regel allein liest, wähnt man sich unentwegt in Gruppe, fast schon im Gedränge. Siebzehn Fotografen und noch mehr Wissenschaftler und Autoren geben mit Textessays, Analysen und Interviews ungeahnte Fruchtbarkeit in die Begegnung. Die Herausgeber halten Wort, wenn sie versprechen das die Dominanz des theoretischen Diskurses abgelöst wird und seine Erweiterung um die Dimension der Visualisierung und des für sich stehenden Bildes erfährt. Tatsächlich, es ist kein wissenschaftlicher Band mit Bildteil und auch kein Bildband mit bemüht erklärendem wissenschaftlichem Nachwort. Es ist eine Begegnung mit dem sich zu einer packenden Zusammenarbeit auflösenden Widerspruch zwischen individueller Erfahrung und wissenschaftlicher Analyse den die Herausgeber als Visuelle Soziologie bezeichnen.
Alle Fotografen kommen aus dem Osten, verbrachten dort den größten Teil ihres Lebens. Das Ossis was über den Osten zeigen/erzählen, ist leider noch Ausnahme, wie wir wissen, und sorgt deshalb für viel Freude und noch wichtiger: Glaubwürdigkeit.
Einige Fotografen erzählen von dem was sie tun, woher sie kommen und warum die DDR anders war, anders für jeden von ihnen auf eine andere Weise. So gleicht kein Bildkomplex dem anderen. Eben dies, diese Kontextualisierung hebt, wie Peter Weibel im Grußwort schreibt dieses Projekt von vornherein über das übliche Ausstellungsniveau.
Wenn die Fotografien eines Werktages in der Gießerei des VEB Maschinenbau Görlitz von Ralf Anders auf die Ausführungen des ehemaligen Direktors des Stahlund Walzwerkes Brandenburg, Hans-Joachim Lauck treffen, wird dies erfahrbar. Hier fächert er sich auf, der Widerspruch zwischen der körperlich schweren, schmutzigen Arbeit in den arbeitsintensiven Industriezweigen der DDR und der zukunftweisenden Grundausrichtung aller DDR-Industriekombinate als Multiplikator, Impulsgeber gesellschaftlichen Fortschritts. Dies fing an beim umfassenden Sozial- und Gesundheitswesen der Produktionsstätte und hörte beim Kombinat als Motor, Initiator unzähliger kultureller Angebote in Stadt und Land nicht auf. Das der geschaffene Mehrwert ohne Umweg eben nicht nur in das Wachstum der Wirtschaft, sondern in großen Teilen auch ohne Umweg in das Wachstum der Lebensqualität derer floss die den Mehrwert schufen, war Fundament der gesamten Wirtschaft der DDR, der wirklich maroden Bereiche aber auch der modernen und hochproduktiven. Es bleibt nicht nur das Bild der grauen Werkhalle und der schmutzigen Knochenarbeit in der Gießerei und es bleibt nicht nur der Text über die gesellschaftliche Verantwortung des Stahlwerkes Brandenburg und letztlich auch des Maschinenbaukombinates Görlitz, es bleibt ein Gesamtbild, das das Hirn in Bewegung setzt.
Gerade der Aspekt des scheinbar schroffen Gegenübers von Industrieproduktion und Kultur, macht aufgegriffen durch die Fotografien aus Gesprächen mit dem Komponisten Paul Dessau klar, wie sich Beides bedingte. Was der große Dessau zur Achtung der Arbeit und zum Wirken seiner kulturellen Tätigkeit mit (s)einer Werksbrigade im Interview erzählt ist aufschlussreich. Es will nicht recht passen zum abschätzigen Getöse, wenn es in heutigen Leitmedien um die Kulturarbeit der DDR in den Betrieben geht. Auf den Bildern sieht Dessau in das von ihm dirigierte Orchester genauso konzentriert und fokussiert wie in das Gesicht seines Gesprächspartners in schwere Arbeitskleidung bei einem Betriebsbesuch.
Paul Dessau erlebte die Annexion der DDR nicht mehr, er starb 1979. Evelyn Richter, die Fotografin, die ihn begleitete wirkte jedoch in zwei Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen. Den Schock mit dem Wegbrechen des Alten, das in Hass und Liebe Teil des Selbst geworden war, den Einmarsch des „Neuen“ zu erleben ist nicht nur Erfahrung der Industriearbeiter der DDR gewesen.
Auch diejenigen die in der DDR mit dem Fotoapparat ihrer Arbeit nachgingen mussten dies verarbeiten, auch wenn sie nicht, wie so viele Arbeiter in den letzten Werktagen vor der Arbeitslosigkeit ihre ehemals eigenen und nun geschlossenen Arbeitsstätten selbst abrissen. Der Bruch im Lebenslauf zeigt sich in ihren Bildern die diesen Abriss begleiteten. Nur der außenstehende Fotograf konnte sie so erfassen. Aus dem Ort der Nähe wurden ein Ort befremdlicher Entfernung berichtet der Fotograf Christian Borchert über sein Dresden in einem Interview anlässlich seiner Foto-Zeitreise „Bilder einer Stadt. Dresden 1954-1995“. Die intensive Beschäftigung der Herausgeber mit den Fotografen entspricht der intensiven Beschäftigung mit den geschichtlichen Abläufen von SBZ bis Anschluss – die Einführung in die zeithistorischen Phasen der DDR die das Buch strukturieren bieten auf knapp 20 Seiten nicht weniger als eine auf den Punkt gebrachte Zusammenfassung dessen was man zur Geschichte der DDR und ihrer Annexion durch die BRD heute mindestens wissen muss, gerade heute wissen muss. Der Herausgebertext kann als Substrat von Milevs Monografien Anschluss, Umbau, Exil gelesen werden und gehört in die politische Bildung der Gegenwart, in den Schulunterricht und auf die Portale der einschlägigen zeithistorischen Institute.
Das aber Fakten und Zahlenmaterial gerade über den Anschluss der DDR nicht in der Lage sind die Andersartigkeit der DDR und ihre Zerstörung allumfänglich zu erfassen führt der Vergleich zweier Fotoserien über das Schicksal zweiter Neubaugebiete im wahrsten Sinne vor Augen. Der Blick ins Leipziger Grünau, zusammengestellt in Harald Kirschners „Abenteuer Platte“ zeigt wie die Bilder Jens Rötzschs in „Planstadt-Rückbau“ ein Bauvorhaben inmitten von Beton und hohe Plattenbauten. Doch während es bei Kirschner um den Aufbau eines der größten Plattenbausiedlungen der DDR geht, begleitet Rötzschs Abrissarbeiten im Marzahn nach dem Anschluss. Allein hier wurden 3.500 Wohnungen komplett ausradiert. Was den Kindern auf den Fotografien Kirschners der Abenteuerspielplatz Großbaustelle ist, endet 2004 in menschenleeren Abrisshalden, in denen nur die Tapeten an den demontierten Wohneinheiten daran erinnern das hier einst Menschen lebten. Ein Abriss der nicht nur ein Akt der kompletten Zerstörung ist, sondern der heute in den übrig gebliebenen Neubaugebieten im Osten als Folge eines Abrisses der vormals ausgewogenen Sozialstruktur der Bewohner verheerend wirkt in Richtung Ghettoisierung, die die Mittelschicht in den schnieken Innenstädten nicht sehen möchte. Dieser Abriss machte in den Jahrzehnten nach dem Anschluss die Plattenbausiedlungen der DDR zu dem was sie bis dato niemals und im Westen schon immer waren: soziale Brennpunkte.
Ebenfalls dem Abriss erliegt seit 1990 die Erinnerungskultur. Die Fotos von Philipp Beckert zeigen virtuelle Szenarien der Befreiung Berlins über die Oderbruchwiesen, über Bernau in die Stadtmitte hinein, bis hin zur Stätte des antifaschistischen Widerstands, seit dem 8. Mai 1949 das Sowjetisches Ehrenmal im Treptower Park. Ein brandaktueller Bezug, gerade heute, wo regierende Polittrends, die Milev normativen Populismus nennt, historische Tatbestände ins ewige Dunkel zu verbannen trachten und erneut Panzer gen Moskau schicken.
Thematiken dieses Buches, kurz angerissen. So viel und noch viel mehr bietet „Zeugnisse“ der fünfte Band der „Entkoppelten Gesellschaft“ dem wohl derzeit spannendsten Forschungsprojekt zur Annexion der DDR auf dessen Fortsetzung man gespannt sein darf und muss.
Yana Milev, Philipp Beckert, Marcel Noack (Hrsg.), Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90, Band 5: Zeugnisse/Fotografie, Peter Lang, 2021.
*Titel des Forschungsprogramms: Entkoppelte Gesellschaft. Liberalisierung und Widerstand in Ostdeutschland seit 1989/90. Ein soziologisches Laboratorium. Start: Januar 2017. Laufzeit 5 Jahre, URL: www.entkoppelte-gesellschaft.org
*Titel der Schriftenreihe: Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90: Bd.1: Anschluss, Bd.2: Umbau, Bd.3: Exil, Bd.4: Tatbestände, Bd.5: Zeugnisse/Fotografie, Bd.6: Zeugnisse/Film, Bd.7: Szenen, Bd.8: Räume, Bd.9: Welche Zukunft?“; Peter Lang, Internationaler Verlag der Wissenschaften, Berlin,
URL: https://www.peterlang.com/search?searchstring=Yana+Milev